Adidas, Boss & Co. haben keine Ausrede mehr: Die Clean Clothes Campaign hat ausgerechnet, was Näherinnen in Osteuropa verdienen müssten
Beschäftigte der Modeindustrie brauchen einen Lohn, von dem sie leben können. Das fordert die internationale Menschenrechtsinitiative Clean Clothes Campaign (CCC) seit langem. Doch alle großen Modehäuser zahlen bislang nur einen Bruchteil eines solchen living wage. Lange versteckten sich Adidas, Otto, H&M, Hugo Boss, Olymp, Zalando & Co hinter dem Argument, nicht zu wissen, wie hoch ein existenzsichernder Lohn überhaupt sein müsste. Diese Ausrede gilt jetzt nicht mehr: Die Clean Clothes Campaign hat zusammen mit den Textilarbeiterinnen und -arbeitern vor Ort einen existenzsichernden Lohn für europäische Billiglohnländer wie Rumänien oder die Ukraine errechnet. Damit hat auch die EU nun eine Basis, endlich ein Gesetz gegen miserable Mindestlöhne zu verabschieden.
Prozentualer Anteil des gesetzlichen Netto-Mindestlohns am Existenzlohn-Richtwert
Jedes vierte Kleidungsstück, das in Deutschland verkauft wird, stammt aus einer Textilfabrik in Ost- und Süd-Ost-Europa. Doch dort bekommen Näherinnen und Näher der großen Modemarken nur Hungerlöhne – und mitunter weniger als die Textilarbeitenden in Fernost. „Es gibt Tage, da haben wir nichts zu essen“, berichtete uns in der Ukraine eine Näherin, die für einen Lieferanten von Esprit und Gerry Weber arbeitet. Und eine junge Frau aus Kroatien, die für Hugo Boss fertigt, sagte:
Wenn Du krank bist, kannst Du Dich gleich erschießen – denn krank zu sein, können wir uns schlichtweg nicht leisten.
Das belegen auch Zahlen der CCC: Selbst wenn sie den vor Ort gültigen Mindestlohn bekommen, bleiben viele der 2,3 Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter der ost- und südosteuropäischen Modeindustrie arm. Doch vielerorts wird nicht einmal der gesetzliche Mindestlohn bezahlt. Beispiel Rumänien: In diesem EU-Mitgliedstaat verdient eine Näherin im Schnitt 208 Euro monatlich – 41 Euro weniger, als es das Gesetz vorsieht. Um davon leben zu können – also auch Geld für Miete und Urlaub zu haben – müsste sie jedoch 1.061 Euro verdienen. Nur mit einem solchen existenzsichernden Lohn können Familien ihre Grundbedürfnisse – also Ernährung, Kleidung, Wohnung, Mobilität, Hygiene, Kultur und Erholung – befriedigen oder Rücklagen bilden, mit denen sie etwa Lohnausfälle während der Pandemie überstehen. Diese Gehaltshöhe hat die Clean Clothes Campaign gemeinsam mit den Arbeiterinnen und Arbeitern vor Ort ausgerechnet. Herausgekommen ist ein grenzübergreifender Basis-Existenzlohn, der gleichwohl für jedes Land verschieden ist. So liegt er beispielsweise für Bulgarien bei 1.026 Euro, in Nordmazedonien bei 734 Euro oder in der Slowakei bei 1.558 Euro. Zum Vergleich: Im Schnitt liegt der Mindestlohn in diesen Ländern nur bei einem Viertel dieses Existenzlohnes.
Mit diesem RICHTWERT FÜR EINEN EUROPÄISCHEN BASIS-EXISTENZLOHN haben die Mode-Konzerne erstmals eine Orientierung, welche Löhne sie in den Kalkulationen mit ihren Zulieferfirmen berücksichtigen müssten. Modekonzerne können sich auch nicht mehr hinter dem Argument verstecken, gar nicht zu wissen, wie hoch ein existenzsichernder Lohn denn sein müsse.
Der jetzt von der CCC vorgelegte Basisexistenzlohn könnte auch für das EU-Parlament eine wichtige Leitlinie sein. „Nicht nur die Modeunternehmen blockieren durch ihre Preispolitik vor Ort die Zahlung höherer Löhne – auch die EU hat durch Auflagen, verbunden mit Kreditvergaben an Osteuropa, die Setzung höherer Mindestlöhne behindert“, kritisiert Bettina Musiolek von der Clean Clothes Campaign.
Die CCC fordert von der EU, bei ihrem laufenden Gesetzgebungsverfahren für wirklich angemessene Mindestlöhne zu sorgen, die auch kontrolliert und effektiv umgesetzt werden.
In diesem STRATEGIEAPIER führt die Kampagne für einen grenzüberschreitenden Europäischen Basis-Exitenzlohn ihre Forderungen aus und beantwortet die Frage, wie ein anderer Lohn möglich ist:
Armutslöhne sind eine beschämende Realität, wenn man die Profite betrachtet, die Modemarken und -händler in der Lieferkette machen. Sie profitieren, da sie die zweifache Kontrolle haben: über den internationalen Konsum-Markt und über die Billiglohn-Regionen im Globalen Süden und ‚Globalen Osten‘. Auf dem Produktionsmarkt schaffen Modemarken und -händler einen hohen Konkurrenzdruck um die niedrigsten Fertigungskosten unter ihren Zulieferern.
Der Anspruch auf einen existenzsichernden Lohn ist wichtig für die Stärkung von Frauen nicht nur in Bezug auf ihre Arbeit, sondern auch als wirtschaftlich aktive Bürgerinnen. Die Lohnhöhe in der Bekleidungsindustrie wird stark davon beeinflusst, dass die überwältigende Mehrheit der Beschäftigten Frauen sind. Sie werden in der Regel schlechter bezahlt als Männer und haben weniger Aussicht auf Beförderung. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse erhalten und befördern ständige Einkommensunsicherheit. Wenn Frauen arbeitslos werden, entdecken sie häufig, dass ihre Sozialversicherungsbeiträge nicht gesetzeskonform bezahlt wurden und sind zudem den nicht existenten oder nicht funktionierenden sozialen Sicherungssystemen ausgesetzt. Frauen sind bekanntermaßen von sozialen Sicherungssystem in höherem Maße abhängig als Männer. Die derzeitigen Löhne der Näher*innen sind inadäquat; statt eine wirtschaftliche Verbesserung darzustellen, zementieren sie deren Armut, Schulden und niedrigen sozialen Status in Gesellschaft und Arbeitswelt. Es ist längst überfällig, dass sich das ändert.
Einige Modemarken und -händler erkennen zwar das Recht auf einen Existenzlohn in ihren freiwilligen Kodizes an, doch überprüfen sie meist nur, inwiefern die Zulieferer den vor Ort geltenden gesetzlichen Mindestlohn einhalten. Fast kein Modehändler garantiert in der Praxis die Zahlung eines Existenzlohns.1 Währenddessen sind die Regierungen in den Produktionsländern in Mittel-, Ost- und Südosteuropa darum bemüht, die Mindestlöhne so niedrig wie möglich zu halten, durchschnittlich auf dem Niveau von einem Viertel des Existenzlohns. Sie vergleichen ständig die Mindestlöhne mit konkurrierenden Ländern und sehen sich ständig dem Damoklesschwert der Verlagerungsdrohung ausgesetzt. Die Angst vor einer Produktionsverlagerung ist das Haupthindernis bei Tarifverhandlungen und die größte Hürde bei der Organisierung der Arbeiternehmer*innenschaft. Theoretisch sollte es für Gewerkschaften möglich sein, höhere Löhne als den Mindestlohn auszuhandeln – in der Realität ist das fast unmöglich.
Dieser Bericht fasst die Diskussionen, die die European Production Focus Group (Europa-Ost/Süd-Gruppe) der CCC in zahlreichen Treffen und Besprechungen seit 2014 geführt hat, zusammen. Es war unser Ziel, eine Methodik für die Berechnung eines grenzübergreifenden Basis-Existenzlohns für europäische Textil-Produktionsländer zu entwickeln. Nach umfangreichen Beratungen hat die Gruppe Entscheidungen zu den kritischen Punkten getroffen, die weiter unten dargestellt und begründet werden. Während dieser Zeit standen wir stets in engem Kontakt zur Asia Floor Wage Alliance, um von ihrer Erfahrung und ihrem Wissen zu profitieren.
Made in Europe – made fair?
Es wird vielfach angenommen, dass Arbeitsbedingungen und Löhne in der europäischen Modeproduktion besser sind als in Asien. Die Clean Clothes Campaign hat diese Wahrnehmung bereits 2014 mit ihrem Bericht „Im Stich gelassen – Die Armutslöhne der ArbeiterInnen in Kleiderfabriken in Osteuropa und der Türkei“ in Frage gestellt, wo wir herausfanden, dass die Kluft zwischen Mindestlohn und real gezahltem Entgelt sowie einem geschätzten Basis-Existenzlohn in Europa tendenziell größer ist als in Asien. In Europa Ost/Süd3 gibt es generell und insbesondere in der Bekleidungsindustrie verhältnismäßig wenig gewerkschaftliche Organisation.
Das Menschenrecht auf einen existenzsichernden Lohn ist als Menschenrecht in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN verbürgt: „Jeder Mensch, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung, die ihm und der eigenen Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert […].“ (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 23, Absatz 3). Bereits die Präambel der Verfassung der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) von 1919 spricht von der „Gewährleistung eines zur Bestreitung des Lebensunterhaltes angemessenen Lohnes“. Jüngste IAO Definitionen zu Menschenwürdiger Arbeit bestätigen diese Auffassung.
Im europäischen Kontext schreibt die vom Europarat 1965 veröffentlichte und 1999 überarbeitete Europäische Sozialcharta (ESC) das Recht auf einen Existenzlohn in Artikel 4 fest: „das Recht der Arbeitnehmer auf ein Arbeitsentgelt anzuerkennen, welches ausreicht, um ihnen und ihren Familien einen angemessenen Lebensstandard zu sichern“. Die ESC ist europaweit anerkannt, nicht nur in EU-Mitgliedsstaaten. 2017 stellte die Europäische Union ihre Europäische Säule sozialer Rechte (ESSR) auf, die auf das „Recht auf eine gerechte Entlohnung, die […] einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht“ verweist.
Die zahlreichen Normierungen des Rechts auf ein menschenwürdiges Arbeitsentgelt verlangten nach einer Bestimmung seiner wesentlichen Eigenschaften. Folgendes sind die Charakteristika, die bei den meisten Stakeholdern und Expert*innen als gesetzt gelten:
a. Als ein weltweit anwendbares Menschenrecht gilt er für alle Arbeiter*innen unabhängig ihres Status’ am Arbeitsplatz, ihrer Produktivität oder persönlichen Situation (bspw. Familienstand). Es ist der niedrigste gezahlte Lohn, kein*e Arbeiter*in verdient weniger als diesen festgelegten Existenzlohn.
b. Er muss stets ausreichen, um die Grundbedürfnisse der Arbeiter*innen zu erfüllen – einschließlich sauberem Trinkwasser, sanitärer Versorgung, Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln, Gesundheitsversorgung und Bildung
c. und ihrer Familien,
d. sowie ein frei verfügbares Einkommen bereitstellen (i.A. zusätzlich 10 % der Ausgaben für die Grundbedürfnisse).
e. Er muss innerhalb der Regelarbeitszeit erzielt werden, d.h. ohne Überstunden.
Ein Existenzlohn ist allein eine Kategorie der Lebenshaltungskosten. Produktivität oder die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines/einer Arbeitnehmers/Arbeitnehmerin bleiben unberücksichtigt.
Es bestehen kleinere Differenzen zwischen Akteur*innen und Stakeholdern bei der Definition eines Existenzlohns und dementsprechend auch bei dessen Berechnung. Wie spezifiziert die CCC die oben genannten, weitgehend akzeptierten Charakteristika?
Ein Existenzlohn ist ein Nettoeinkommen
Ein Existenzlohn ist ein Netto-Grundlohn, der innerhalb der Regelarbeitszeit (die Länge der Arbeitswoche ist abhängig von der nationalen Gesetzgebung) erzielt wird, ohne Überstunden, Boni und Zuschüsse sowie nach Steuerabzug. In anderen Worten ist dies das verfügbare Arbeitsentgelt in bar am Ende eines Monats mit Regelarbeitszeit. In der Vergangenheit gelangten Beschäftigte in den post-sozialistischen Ländern in den Genuss einer Reihe von Subventionsmaßnahmen wie Sozialwohnungen, Kinderbetreuung, subventionierte Heizung und günstigem öffentlichen Nahverkehr. Prozesse der ‚Rekommodifizierung‘ einer marktkonformen Daseinsvorsorge – z.B. durch Privatisierung – führten jedoch dazu, dass sich die Anzahl der Waren und Dienstleistungen, die aus dem Lohn bestritten werden müssen, wesentlich erweitert hat. Aus dem Nettoverdienst müssen nun auch die Ausgaben bestritten werden, die vormals durch Sozialleistungen und Einkommenssteuern subventioniert und finanziert wurden.
Ein Lohn zum Leben muss bar ausgezahlt sein, nicht in Sachleistungen. Eine Auszahlung in Form von Sachleistungen oder Gutscheinen würde Arbeiter*innen abhängig machen von ihren Arbeitgeber*innen und sie in ihrer wirtschaftlichen Freiheit einschränken bzw. ihr Recht auf Selbstbestimmung beeinträchtigen.
Was genau sind Grundbedürfnisse?
Die wesentlichen Bedürfnisse, die die CCC mit Blick auf europäische Textilarbeiter*innen ausmacht, sind Lebensmittel (Nahrungsbedarf von 3.000 Kalorien/Tag), Kleidung, Transport (Monatskarten für öffentlichen Nahverkehr), Unterkunft (Miete oder Kreditraten, übliche Instandhaltungsmaßnahmen), Nebenkosten und Kommunikation (Strom, Heizung, Wasser, Müllabfuhr, Telefon, Internet), Bildung, Freizeit und Kultur, Kosten für Gesundheit und Hygiene sowie Urlaub (einwöchiger Urlaub innerhalb des Landes für alle Haushaltsmitglieder).
Ein Existenzlohn ist ein Familien-Konzept – ein Geschlechter-sensibler Ansatz
Die oben genannten internationalen Standards definieren einen Existenzlohn klar als ein Familien-Einkommen. Ein Existenzlohn muss Arbeiter*innen prinzipiell ungeachtet ihrer persönlichen Situation gezahlt werden. Wenn der Existenzlohn in Single- und Familien-Lohn aufgespalten wird, würde dies zu Wettbewerb und Kostendruck führen, wodurch Arbeiter*innen mit Familien von Benachteiligung bei der Arbeitssuche betroffen wären und die Chancen unverheirateter Arbeiter*innen zur Gründung einer Familie reduziert würden. Feldstudien zeigten Diskriminierungen von Arbeiterinnen, wenn sie schwanger werden, oder sie werden unter Druck gesetzt, während ihrer Anstellung nicht schwanger zu werden.
Wir berechnen einen existenzsichernden Lohn als Familien-Einkommen, wobei wir Familie als ein Unterhalts-Netzwerk verstehen, das nicht nur auf die Kernfamilie reduziert ist. Vielmehr schließt es die sozialen Erwartungen und Verpflichtungen, die sich an die Frauen richten, ein und bezieht Realitäten wie die unentgeltliche Pflege- und Unterhaltsleistungen für Ältere und Kinder in der Großfamilie mit ein. Zusammen mit dem Trend der jungen und – v.a. der besser ausgebildeten – Menschen auszuwandern – wird der Pflegenotstand in den Ländern dieser Region zweifellos ansteigen und eine riesige Herausforderung für die dortigen Gesellschaften darstellen.
Das Menschenrecht auf einen Lohn zum Leben gehört zu den befähigenden und ermächtigenden Rechten. Es ist ein starkes Werkzeug nicht nur, um die Arbeitssituation von Frauen zu verbessern, sondern auch, um ihnen ein Umfeld zu bieten, in dem sie ihre Fähigkeiten entfalten können. Bei einem Existenzlohn-Konzept ohne Geschlechter-sensiblen Ansatz wird ignoriert, dass fehlendes Familien- bzw. Haushaltseinkommen bei der Ressourcenverteilung innerhalb des Haushalts weiterhin Frauen und Mädchen benachteiligt, z.B. indem ihnen weniger nahrhaftes Essen oder weniger Möglichkeiten für Bildung und Gesundheitsversorgung zugeteilt werden als den männlichen Haushaltsmitgliedern. Studien in der Ukraine und Rumänien haben bestätigt, dass in Haushalten von Näher*innen oder anderen Haushalten mit geringem Einkommen Frauen und Mädchen sich weniger nahrhaft ernähren und Jungen gegenüber ihren Schwestern bevorzugt werden, wenn es um kostenintensive weiterführende Schulbesuche oder Gesundheitsleistungen geht.
Ein weiterer Grund für das Betonen des Familien-Ansatzes besteht darin, dass Näher*innen in europäischen Ländern – meist Frauen – oftmals die Hauptverdiener*innen der Familie oder alleinerziehend sind. Die Ehemänner sind oftmals arbeitslos, gehen informellen Beschäftigungen nach oder emigrieren auf der Suche nach Arbeit in westeuropäische Länder. Diese Einkommensarmut führt dazu, dass Frauen mehr Überstunden arbeiten, Nebentätigkeiten ausüben oder möglichst wenig Geld für Essen ausgeben. All diese Überlebensstrategien haben eine extreme Zeitarmut zur Folge.
Darüber hinaus arbeiten Frauen häufiger als Männer unter informellen Arbeitsverhältnissen. Neben formal angestellten Beschäftigten arbeiten oft Frauen ohne Vertrag, Sozialversicherungen und Arbeitszeitbegrenzung zu reinem Stücklohn bzw. Akkord; sie verdienen sehr wenig, oftmals unter dem Mindestlohn, sie werden nicht rechtzeitig bezahlt – und zudem interessieren sich keine Regierungen, politische oder Arbeit*innenorganisationen für sie.
Im achten Kapitel des RICHTWERT FÜR EINEN EUROPÄISCHEN BASIS-EXISTENZLOHN argumentieren wir, dass gesetzliche Mindestlöhne wie auch EU-Armutsgrenzen keine Entlastung von Arbeiter*innen mit niedrigem Einkommen bringen. Anstelle eines Existenzlohns ist der gegenwärtige Lohnrichtwert für Beschäftigte in der Bekleidungsindustrie allein der gesetzliche Mindestlohn. Die Mehrheit der Näher*innen weltweit erhält den gesetzlichen Mindestlohn, den sie manchmal sogar nur durch das Ableisten von Überstunden erreichen.
Der Unterschied zwischen Existenzlohn und gesetzlichem Mindestlohn
Was diese beiden Konzepte von einander unterscheidet, ist ihr zugrunde liegendes Prinzip. Wir beziehen uns auf den existenzsichernden Lohn als Menschenrecht ausschließlich basierend auf Lebenshaltungskosten. Im Gegensatz dazu werden gesetzliche Mindestlöhne politisch auf Grundlage der jeweiligen wirtschaftlichen Wettbewerbsvorteile eines Landes festgesetzt. Ungeachtet dessen, dass sowohl der Mindestlohn wie der Existenzlohn einander in ihrem Ziel gleichen, einen ausreichenden Einkommenspuffer für Menschen mit geringem Einkommen zu schaffen, sind Mindestlöhne rechtlich verankert und verpflichtend, während die Zahlung eines Existenzlohns meist nicht national reguliert ist.
Mindestlohn und Existenzlohn gleichen sich darin, dass sie geleistete Arbeit entlohnen. Ersterer ist jedoch ein personenbezogener Lohn, während die CCC das Konzept des Familien-Einkommens beim existenzsichernden Entgelt hervorhebt.
Die Bekleidungsindustrie stellt den Inbegriff einer Käufer-gesteuerten Wertschöpfungskette dar. Die Marken und Einzelhändler kontrollieren, wie die Wertschöpfung entlang der Produktionskette verteilt ist und wo und wann die Fertigung stattfindet. Daher bezeichnen wir diese Firmen als übergeordneten Arbeitgeber.
Die Unternehmen meist mit Hauptsitz in Nordamerika und Westeuropa verlagern die Produktion innerhalb und zwischen Ländern. Produktionsverlagerung wird einfacher, je weniger Wertschöpfung passiert. In Niedriglohn-Ländern wird wenig Wert generiert. Durch die langjährige EU-Handelspolitik der Passiven Lohnveredelung innerhalb Europas, also der zollfreien Produktionsauslagerung in nahegelegene Freihandelsgebiete Mittel-, Ost- und Südosteuropas, stellen die Arbeitslöhne in den Konfektions-Arbeitsschritten den größten Teil der Wertschöpfung dar – wertmäßig ein sehr kleiner Betrag. Dieses seit den 1970er Jahren praktizierte Produktions- und Handelssystem ist nach wie vor das vorherrschende Modeproduktionssystem; es bringt sehr wenig Wertschöpfung hervor.
Um der ausländischen Konkurrenz Stand zu halten, begannen die Zulieferer, die Löhne und Lohnkosten zu drücken – eine Lohn-Abwärtsspirale. Zulieferer aus Europa-Ost/Süd begannen sowohl untereinander zu konkurrieren als auch mit Zulieferern aus asiatischen Produktionsländern. Die Aufhebung des weltweiten Quotensystems für Bekleidungsexporte 2005 bedeutete, dass diese Zulieferer hinweggefegt wurden durch die Öffnung des Marktes gegenüber einem der weltgrößten Hersteller: China. All dies bedeutete zusätzlichen Druck auf Seiten der Zulieferer und trieb den Lohnunterbietungswettlauf weiter voran.
Ein Konzept, das Arbeiter*innen in den Mittelpunkt rückt, muss das Fast Fashion-Geschäftsmodell berücksichtigen. Ein solches Konzept muss der ständigen Verlagerungsdrohung und dem Lohnunterbietungswettlauf der Länder etwas entgegensetzen. Das globale Fast Fashion-Wirtschaftsmodell erfordert eine Politik, die der Konkurrenz um Löhne zwischen den Ländern entgegentritt – und dennoch verschiedenartige Länder nicht gleichmacht.
Was ist der wesentliche Unterschied zu bestehenden Berechnungen eines Existenzlohns?
Es gibt zahlreiche Existenzlohn-Schätzungen von verschiedenen Organisationen, wie der CCC selbst, der Global Living Wage-Koalition oder der in den Niederlanden ansässige Wage Indicator Foundation. Diese Berechnungen beziehen sich auf einzelne Länder oder gar Regionen innerhalb einzelner Länder. Unser Ziel ist ein anderes: unser Existenzlohn funktioniert infolge der Logik globaler Lieferketten über Ländergrenzen hinweg.
Grenzübergreifende und nationale Existenzlohn-Richtwerte ergänzen einander. Eine bemerkenswerte Initiative, einen nationalen Existenzlohn zu berechnen, entwickelte sich in Tschechien. Eine informelle Gruppe, darunter Mitglieder der CCC und Gewerkschaftsvertreter*innen, berechneten ein ‚Basis-Einkommen für ein würdiges Leben‘. Nationale oder lokale Existenzlohn-Berechnungen laufen jedoch Gefahr, die Lohnkonkurrenz zu verstärken. Individual- und nationale Richtwerte riskieren es, in die ‚Wettbewerbsvorteil‘-Falle zu tappen und der Lohnunterbietungsspirale nicht standhalten zu können, der sie begegnen wollten. Sie müssen durch grenzübergreifende Strategien ergänzt werden.
Ein ähnliches Problem besteht bei dem Ansatz von Action Collaboration Transformation (ACT). ACT ist eine freiwillige Initiative globaler Modemarken und der IndustriALL Global Union für Branchen-Tarifverhandlungen im Bekleidungs-, Textil- und Schuhsektor. Es soll Gewerkschaften und Lieferanten-Arbeitgeber dazu anhalten, Löhne auf nationaler Basis mit Unterstützung der beteiligten Modemarken zu verhandeln. Die dann in den Branchentarifverträgen ausgehandelten Löhne sollen Grundlage für die Kalkulation der Einkaufspreise der Modemarken sein. Das Vorhaben zielt auf breite Lohnerhöhungen ab. Unsere Befürchtung ist jedoch, dass die signifikanten Einkaufspreiserhöhungen der Modehändler nicht rechtlich bindend und durchsetzbar festgelegt werden. Es ist ein nationales Herangehen. Zur Bekämpfung der Produktionsverlagerungen muss jede Strategie der Lohnanhebung jedoch länderübergreifend vorgehen. Darüber hinaus wurde kein Existenzlohn-Richtwert aufgenommen. Löhne können auf diesem Wege steigen, doch wird diese Strategie infolge des globalen Wirtschaftsmodells nicht in der Lage sein, die Kluft zwischen Mindestlohn und Existenzlohn zu schließen.
Was sollte er leisten?
Wir brauchen eine Methode für die Berechnung eines grenzübergreifenden Basis-Existenzlohns, die einfach und robust ist und die teure und andauernde Recherchen vermeidet. Sie sollte zugänglich und verständlich sein für Arbeiter*innen und ihre Organisationen. Ein Existenzlohn-Richtwert sollte pragmatisch und leicht zu nutzen sein für die verschiedenen Stakeholder (Arbeitsrechtsorganisationen, Gewerkschaften, Unternehmen, Regierungen, Zulieferer). Wir halten das für wichtige Eigenschaften eines Existenzlohns, bei dem die Arbeiter*innen im Zentrum stehen.
Die einzige Existenzlohn-Berechnung, die sowohl Arbeiter*innen-zentriert als auch grenzübergreifend ist, ist der Asia Floor Wage (AFW). Er wurde 20091 von der Asia Floor Wage Alliance eingeführt und ist heute weitgehend anerkannt.
Warum ist er einfach?
Die Berechnungsmethodik des Asia Floor Wage, des Asiatischen Basis-Existenzlohns nutzt das Engelsche Gesetz, um die Lebenshaltungskosten zu ermitteln. Mit dieser Gesetzmäßigkeit (dem Zusammenhang von Haushaltsausgaben bzgl. Ernährung und dem gesellschaftlichen Entwicklungsstand) zu arbeiten ermöglicht es, sich auf die Haushaltsausgaben für Ernährung als Hauptindikator eines Existenzlohns zu konzentrieren und sie separat von anderen Ausgabekategorien zu betrachten. Daraus ergibt sich der große Vorteil einer sehr viel einfacheren Berechnung. Wir müssen also nur die Kosten für Ernährung untersuchen – nicht sämtliche Haushaltsausgaben – und diese mit dem jeweiligen prozentualen Anteil der Lebensmittelkosten an den Haushaltsausgaben multiplizieren, um zu einem Anhaltswert für einen Existenzlohn zu gelangen.
Welche Berechnungsgrundlagen wurden vom Asiatischen Basis-Existenzlohn übernommen?
Der AFW recherchiert die Nahrungsmittel-Ausgaben auf der Grundlage von Kalorien anstelle von Nahrungsmitteln, damit eine gemeinsame Basis über Länder und Esskulturen hinweg ermittelt werden kann. Die Kalorienanzahl basiert auf der Analyse der Kalorienaufnahme, wie sie asiatische Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen bei der Definition von Armutsgrenzen beschreiben. Die AFW Alliance hat hierbei die relativ hohe Zahl von 3.000 Kalorien pro Tag von der indonesischen Regierung übernommen. Sie argumentierte, dass ein Basis-Existenzlohn nicht dazu führen sollte, Standards zu senken und Frauenarbeit weiter zu entwerten. Folglich wurde die Anzahl von 3.000 Kalorien/Tag als Standard gesetzt.
Bei der Entwicklung eines normativen Ansatzes der Existenzlohnberechnung unter Nutzung der Haushaltsausgaben für Ernährung entschied sich die AFW-Allianz 2009 für einen Anteil der Ernährung an allen Haushaltsausgaben von 50%. Diese 50% galten für die textilproduzierenden Länder Asiens. 2020 aktualisierte die AFW Alliance diesen Anteil auf 45%. In den 55% der Ausgaben für alle anderen Grundbedürfnisse außer Ernährung sind 10% inbegriffen, die ein frei verfügbares Einkommen darstellen, z.B. Ersparnisse für Notfälle.
Da es sich, wie bereits erwähnt, um einen Geschlechter-sensiblen Ansatz handelt, wurde der AFW mit einem Haushalt von drei Verbrauchseinheiten berechnet.
Die Währung, durch die der AFW ausgedrückt wird, ist schließlich die Kaufkraftparität zum US-Dollar (Purchasing Power Parity PPP USD) der Weltbank. Diese virtuelle Währung wurde gewählt, um eine allgemeingültige Zahl zu erhalten, die dann wiederum in sämtliche Landeswährungen umgerechnet werden kann, während markt- und politikbedingte Schwankungen von Währungskursen vermieden werden und gleichzeitig zumindest teilweise der Kaufkraft von Währungen Rechnung getragen wird. Die PPP wird berechnet, indem der Wert in Landeswährung ermittelt wird, mit der die gleichen Güter erworben werden können wie mit 1 US-Dollar in den USA; sie drückt also die Kaufkraft einer Landeswährung im Verhältnis zum US-Dollar aus. Wenn ein Warenkorb in den USA 1 US-Dollar kostet und 0,5 US-Dollar in Serbien, so beträgt der Umrechnungskurs der Kaufkraftparität 2:1.
Wenn die Existenzlöhne auf Landesebene bestimmt und in PPP USD umgewandelt sind, wird anhand der PPP USD-Zahlen eine politische Entscheidung über den Zahlenwert für die Region getroffen. Dieser Regionalwert ist der Asia Floor Wage, der dann wiederum in lokale Währungen zurückgerechnet wird. Es handelt sich hierbei um einen Netto-Wert, das heißt, nach Sozialabgaben, Krankenversicherung und Steuerabzügen. Sachleistungen oder anderweitige Zuschüsse fließen nicht in den AFW ein. Von daher verringert sich der AFW Wert nicht durch vom Arbeitgeber bereitgestellte Wohnunterkünfte oder Kantinenessen. Arbeiter*innen sollten die Möglichkeit erhalten, diese Grundbedürfnisse durch ihren Lohn zu decken. Der AFW stellt einen Basis-Existenzlohn dar, mit dem ein*e Arbeiter*in sich und Angehörige versorgen kann.
Wo wurde bei der Berechnung des Europäischen Existenzlohns von der Methodik des Asiatischen Existenzlohns abgewichen?
Bei der Berechnung eines Europäischen Basis-Existenzlohns – dem europäischen grenzübergreifenden Basiswert eines existenzsichernden Einkommens – sind wir von ähnlichen Annahmen ausgegangen wie in der AFW-Methodik. Trotz bestimmter Gemeinsamkeiten der Produktionsländer in Süd-, Südost- und Ostasien mit denen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa gibt es dennoch kontextuelle und strukturelle Faktoren, die eine Anpassung der Formel notwendig machen. Während wir uns darauf verständigten, 3.000 Kalorien/Tag als Ernährungsbedarf und Nahrungsmittelausgaben als hauptsächlichen Indikator zu übernehmen, mussten wir den Anteil der Ernährungsausgaben an allen Haushaltsausgaben, die Höhe dieser Ausgaben sowie die Anzahl der Verbrauchseinheiten eines Haushalts an den europäischen Kontext anpassen. Die jeweiligen Entscheidungen wurden nach umfangreichen Recherchen und darauf folgenden Beratungen in diversen Besprechungen der Gruppe über einen Zeitraum von sechs Jahren getroffen.
Die vier Schritte zur Methodik finden Sie im siebten Kapitel des RICHTWERT FÜR EINEN EUROPÄISCHEN BASIS-EXISTENZLOHN.
Gemäß den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte haben Heimat- sowie die Produktionsländer der Modemarken bzw. Einzelhändler, die Europäische Union und die Modehändler selbst die Pflicht und die Verantwortung, die Menschenrechte zu respektieren und zu schützen wo auch immer sie produzieren lassen.
Das bedeutet, dass sie mit entsprechender Sorgfaltspflicht agieren sollten um sicherzustellen, dass die Arbeiter*innen einen Existenzlohn erhalten und, wenn dies nicht der Fall ist, eindeutige Schritte zur Korrektur unternehmen.
• Die Heimatstaaten der Modemarken und -händler und die EU haben die Pflicht, sicherzustellen, dass Marken und Einzelhändler Menschen- und Arbeitsrechte weltweit respektieren.
• Die Heimatstaaten der Zulieferer für die Modehändler und die EU haben die Pflicht, die Menschen- und Arbeitsrechte ihrer Arbeiter*innen zu schützen und Mindestlöhne einzuführen, die Armut bekämpfen anstatt eine verarmte und sozial ausgegrenzte Arbeiter*innenschaft hervorzubringen.
• Modemarken und -händler haben die Verantwortung, den gesamten Preis für ein Produkt, das sie in Auftrag geben, zu bezahlen – einen Preis, der mit der Achtung von Menschenrechten einhergeht. Dies beinhaltet einen Lohn, von dem Arbeiter*innen und ihre Familien leben können.
• Modemarken und -händler haben die Verantwortung, keinen Vorteil aus ihrer Wirtschaftsmacht oder aus der schwachen staatlichen Durchsetzung von Menschenrechten zu ziehen und internationale Menschen- bzw. Arbeitsrechte zu respektieren inklusive des Rechts auf einen Existenzlohn über die Einhaltung nationalen Rechts und Regulierungen zum Menschenrechtsschutz hinaus.
Im Besonderen:
1. Modemarken und -händler müssen transparente, konkrete und messbare Schritte entlang ihrer Lieferkette unternehmen, um sicherzustellen, dass Arbeiter*innen in der Bekleidungsindustrie innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens einen Existenzlohn erhalten. Dabei sollten sie der Herangehensweise, wie sie in der Roadmap to a Living Wage1dargestellt ist, folgen. Diese Schritte sollten darauf abzielen, den vorgeschlagenen Richtwert für 2018 zu erreichen: für die Slowakei, Ungarn, Polen, die Türkei, Kroatien, Tschechien, Bulgarien und Rumänien sind dies 2.640 PPP USD, und für Serbien, Bosnien und Herzegowina, Georgien, Nordmazedonien, Albanien, die Ukraine und Moldawien beläuft sich der Wert auf 1.980 PPP USD.
2. Modemarken und –unternehmen sollten gesetzlich bindende und einklagbare Abkommen mit Arbeiter*innenvertretungen unterzeichnen, die die Zahlung signifikant höherer Preise an Zulieferer verlangen, um diese in die finanzielle Lage zu versetzen, einen existenzsichernden Lohn zahlen zu können. Modemarken und Einzelhändler stellen sicher, dass ihre Preiskalkulationen die Schließung der Kluft zwischen dem Europäischen Basis-Existenzlohn und dem gesetzlichen Mindestlohn gleichzeitig für sämtliche Modeproduktionsländer in Europa ermöglicht.
Weiterführende Informationen:
Un(der)paid in the pandemic: Wieviel Lohnausfall mussten die Beschäftigten hinnehmen?
Kroatischer Staat subventioniert deutsche Premiummarke OLYMP
https://saubere-kleidung.de/2020/10/rumaenien-corona-naeherinnen-erhalten-lohn/
Beitragsbild: Yevgenia Belorusets