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75-Stunden-Woche für „Shein“: Public Eye blickt hinter die Glitzerkulisse des chinesischen Online-Moderiesen

Das Wachstum der aktuell angesagtesten Teeny-Kleidermarke ist gigantisch. Und ihr web-basiertes Erfolgsrezept streng geheim. Chinesischen Rechercheur*innen ist es im Auftrag von Public Eye dennoch gelungen, einige Zulieferbetriebe von Shein in Guangzhou zu besuchen, wo Produktionsbedingungen herrschen, die gleich mehrere staatliche Arbeitsgesetze brechen. Unsere Reise ins Innere des Ultra-Fast-Fashion-Leaders führt auch ins europäische Logistikzentrum in Belgien, wo ebenfalls prekäre Arbeitsbedingungen herrschen.

Zürich/Lausanne, 12. November 2021. Willkommen im Reich des grössten Textilkonzerns, von dem Sie noch nie gehört haben. Für die Generation Tiktok steht Shein jedoch längst für eine Riesenauswahl an trendigen Modeartikeln zu Spottpreisen, die in sozialen Medien aggressiv beworben werden und Platzhirsche wie H&M oder das Zara-Mutterhaus Inditex alt aussehen lassen. In den USA wurde die Shein-App im Frühling 2021 häufiger runtergeladen als jene von Amazon. Und auch umsatzmässig könnte der Shooting Star dieses Jahr schon zu H&M aufschliessen. Verlässliche Zahlen zu Marktanteilen oder Gewinn gibt es wegen des Direct-Mailing-Geschäftsmodells keine. Mit einem Produktionszyklus von drei bis vier Wochen galt Zara bislang als Inbegriff von Fast-Fashion. Shein soll ein Kleid innert einer Woche produzieren können – vom Design bis zur Verpackung. Public Eye wollte wissen, wer den Preis für diese supergünstige Ultra-Fast-Fashion zahlt.

Die Kehrseite der glänzenden Shein-Welt leuchteten lokale Rechercheur*innen, die aus Sicherheitsgründen anonym bleiben müssen, in den Gassen der Megacity Guangzhou aus, wo Shein nicht nur seinen Hauptsitz, sondern auch die wichtigsten Zulieferer hat. Sie lokalisierten 17 von insgesamt wohl über 1000 Betrieben, die für Shein produzieren, darunter viele informelle Werkstätten ohne Notausgänge und mit vergitterten Fenstern, was bei einem Brand fatale Folgen hätte. Die ausnahmslos aus ärmeren Provinzen stammenden Arbeiter*innen schuften täglich elf bis zwölf Stunden, bei nur einem freien Tag im Monat. Das ergibt über 75 Stunden pro Woche, was nicht nur den Verhaltenskodex von Shein, sondern auch das chinesische Arbeitsrecht mehrfach bricht. Wer so faktisch für zwei – und zudem ohne Vertrag oder Überstundenzuschlag sowie im Stücklohn – arbeitet, kommt selbst in guten Monaten nicht über 10.000 Yuan (1400 Franken).

Logistikzentrum in Lüttich: unrealistischer Zielvorgaben bei 12,63 Euro pro Stunde

Ähnliche Bedingungen herrschen im riesigen Hauptlager von Shein, das eine Autostunde von Guangzhou entfernt ist und über 10’000 Menschen beschäftigt. Im 24/7-Betrieb sind hier tägliche Arbeitszeiten von 12 Stunden der Normalfall. „Chinesische Verhältnisse“ beklagen auch die Arbeiter*innen im Logistikzentrum von Shein im belgischen Lüttich, wo bis vor Kurzem die europäischen Retouren bearbeitet wurden und wir uns selbst ein Bild machen konnten. Der häufigste Kündigungsgrund ist dort das Verfehlen unrealistischer Zielvorgaben, die für 12,63 Euro pro Stunde erreicht werden müssen. Bis im Juni wurden hier täglich 30.000 Rücksendungen umgepackt, auch jene aus der Schweiz. Seitdem gehen die Pakete vermutlich wieder den ganzen Weg zurück nach China. Unter die Lupe genommen hat Public Eye zudem die verschachtelte Firmenstruktur des neuen Mode-Imperiums. Und dabei viel Offshoring zu Steuervermeidungszwecken gefunden, das offenbar auch in China gängig ist.

Das ganze Shein-Modell ist darauf angelegt, auf der Basis aggressiver Datenbeschaffung und -auswertung möglichst die ganze Wertschöpfungskette zu kontrollieren und dabei möglichst keine Verantwortung zu übernehmen. Durch die Kombination aus avantgardistischer Online-Strategie und archaischen Arbeitszeiten perfektioniert der chinesische Newcomer die Geschäftsprinzipien der Fast-Fashion-Industrie auf besonders perfide Weise. Und hebt so die traditionelle Verantwortungslosigkeit dieser Industrie auf ein neues Level. Dieser Entwicklung kann nur mit Transparenzpflichten in der Lieferkette und politischen Vorgaben zur Konzernverantwortung begegnet werden. Hier sind der Bundesrat wie auch die Schweizer Branchenverbände gefordert.

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