Vor sieben Jahren hat sich ein Geschäftspartner des Shein-Gründers im belgischen Wallonien angeschickt, ein Zentrum für die Bearbeitung von Rücksendungen aufzubauen. Im Industriegebiet von Lüttich packten seither Hunderte Angestellte Shein-Retouren aus – unter prekären Bedingungen und weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit. Bis Ende Sommer plötzlich keine Pakete mehr ankamen.
von Timo Kollbrunner
Anfang Januar dieses Jahres wurde am Flughafen Lüttich eine kleine Feier abgehalten. Die wallonische Regierung überreichte einem chinesischen Geschäftsmann namens Liansen Tan eine Ehrenurkunde. Sein Verdienst: Er habe vor sechs Jahren dem Flughafen Lüttich und damit der Region Wallonien Zugang zum chinesischen Markt verschafft.
Der Europahandel chinesischer Konzerne ist in der Region spätestens seit Ende 2018 ein hitzig diskutiertes Thema: Damals gab der E-Commerce-Gigant Alibaba bekannt, am Flughafen einen riesigen Logistikkomplex bauen zu wollen. Die einen verbinden mit der Ankunft des chinesischen Amazon-Pendants in der einstigen Stahlhochburg in erster Linie die Aussicht auf 900 dringend benötigte Jobs, andere wehren sich unter dem Titel „Stop Alibaba & co“ vehement gegen die Ausbaupläne am Flughafen, gegen Kerosinwolken, Lastwagenlawinen und Nachtflüge im Minutentakt.
Und begonnen hat das alles also mit Liansen Tan. Gegenüber Expattime.be, einem Blog für – genau – Expats, erzählte dieser letztes Jahr, wie er an einem regnerischen Morgen im November 2014 in Belgien gelandet sei; mit der Mission, ein Logistikzentrum aufzubauen für den Webshop eines „alten Schulfreundes“: Xu Yangtian, den Gründer von Shein. Liansen Tan nannte sein Unternehmen in Lüttich „EC Hub“, kurz für „E-Commerce Hub“. Sie seien Vorreiter gewesen, indem sie hier ein Rücknahmezentrum für Retouren aus ganz Europa aufgebaut hätten. Und zwar eines, das gleich auch den Wiederversand übernehmen könne, sodass die Produkte „nicht mehr zurück nach China geschickt werden müssen“, erzählt Liansen Tan nicht ohne Stolz.
Erfolglose Spontanbewerbung
Sucht man im Internet nach diesem EC Hub, stösst man bald einmal auf Bewertungen von Ex-Angestellten: auf der Arbeitgeberbewertungsplattform Glassdoor, der Job-Suchmaschine Indeed oder auf Google. Das Bild, das sich aus den gut 80 Einträgen ergibt, ist kein schönes. Die Palette von Beanstandungen ist breit. Am häufigsten kritisiert werden die „abnormalen Quoten“, die „unmöglich zu erfüllen“ seien. Doch erreiche man die vorgeschriebene Stückzahl nicht, sei man den Job bald los. „Chinesische Verhältnisse“, monieren mehrere, und in einem bilanzierenden Statement heisst es: „Ich rate davon ab. Ausser Sie möchten in eine Depression fallen. Diese Firma ist alles andere als menschlich.“
In eine Depression verfallen möchte ich nicht, neugierig aber machen mich diese Bewertungen schon. Ich bewerbe mich auf ein – schon älteres – Facebook-Inserat, mit dem EC Hub nach dreissig Aushilfskräften gesucht hatte. Die Antwort kommt tags darauf: Zurzeit bestehe kein Bedarf, aber „wir werden uns wieder mit Ihnen in Verbindung setzen, wenn wir wieder Arbeitskräfte suchen“.
So lange möchten wir nicht warten. Zum Glück setzt uns unsere belgische Partnerorganisation achACT mit Cédric Leterme in Kontakt: Der Politikwissenschaftler forscht für Gresea unter anderem zu Onlinehandel und ist auch in der Bewegung aktiv, die sich gegen die Pläne von Alibaba am Flughafen Lüttich einsetzt. Er habe weder von EC Hub noch von Shein je irgendetwas gehört, sagt er, als wir zum ersten Mal miteinander sprechen. Aber er hat, was in so einem Moment am wichtigsten ist: die richtigen Kontakte.
Sudoku, Chips und nichts zu tun
Und so sitzen Cédric und ich an einem Dienstagmorgen im September im Zentrum von Lüttich mit vier weiteren Personen um einen Bürotisch: mit Daniel Maratta, Provinzsekretär bei der Gewerkschaft UBT-FGBT, mit dessen Kollegen Ludovic Moussebois von der anderen grossen Gewerkschaft, CSC-Transcom, sowie mit Robert und Simone, die beide eigentlich anders heissen und bei EC Hub arbeiten. Wobei „arbeiten“ nicht wirklich die richtige Bezeichnung sei, wie die beiden gleich klarstellen. Nicht mehr. Denn seit Ende Juli haben sie nichts mehr zu tun. Auf einem Mobiltelefon spielen sie uns ein Video vor: Eine Handvoll Arbeiter*innen sitzt in einer grossen, leeren Lagerhalle an einem Tisch, sie lachen und winken, zwischen ihnen Haribos, Chips, ein Sudoku-Heft und ein Uno-Spiel. „Wir sind richtig gut geworden in diesen Spielen“, sagt Robert.
Ende Juni waren solche Zustände noch nicht vorstellbar. An einem Tag im Juni wurden am EC Hub über 30 000 Retouren ausgepackt, erfasst und ins Lager eingeräumt, während gleichzeitig aus dem Lagerbestand rund 23 000 Artikel verpackt wurden, um versandt zu werden. Das zeigt eine der Nachrichten, die jeweils zum Ende eines Arbeitstages zwischen den Teamleiter*innen ausgetauscht wurden. „Da lief es noch wie geschmiert“, sagt Simone, und scheint selbst etwas erstaunt.
Schichtarbeit mit Google Translate
Simone arbeitete bei den Retouren. Ihre Aufgabe: die Pakete öffnen, die ankamen – aus Belgien, aber auch aus Deutschland, Italien oder der Schweiz –, die Artikel auspacken und ins System einscannen, die Rückvergütung einleiten. Und zwar in jedem Fall. Egal, in welchem Zustand sich das Kleidungsstück befinde, der Kaufbetrag werde immer zurückerstattet, sagt sie. Denn erstens komme es halt doch sehr oft vor, dass Shein-Artikel schon ab Fabrik Defekte aufwiesen. Und zweitens sei das Computersystem gar nicht ausgereift genug, um nicht rückerstattungsfähige Retouren gesondert erfassen zu können. Überhaupt, dieses System, das sei etwas vom Mühsamsten an ihrem Job gewesen, sagt Simone. Der Hauptgrund: Es ist in Chinesisch. „Wir haben jeweils versucht, mit Hilfe von Google Translate herauszufinden, was wir genau tun müssen.“
1500 unbrauchbare Artikel pro Tag
Simone ist schon mehrere Jahre dabei, hat den kometenhaften Aufstieg von Shein aus dem Lager in Lüttich in Echtzeit miterlebt. Am Anfang hätten sie keinen Lagerbestand gehabt, erzählt sie. Doch dann habe die Anzahl Retouren exponentiell zugenommen – und damit auch jene der Artikel, die entweder kaputt waren oder die sie in ihrem internen System schlicht nicht finden und deshalb auch nicht in den Lagerbestand einordnen konnten. Pro Schicht seien das zuletzt etwa 20 bis 30 Artikel gewesen, sagt Simone. Multipliziert mit 25 Arbeiter*innen mal zwei Tagesschichten ergibt das um die 1500 Artikel pro Tag, für die Shein keine Verwendung mehr hat. Ganz zu Beginn habe man die Ware noch nach Hause nehmen dürfen, erzählt Simone. Danach seien defekte Retouren eine Zeit lang an Hilfswerke abgetreten und schliesslich dann pro Kilo an einen Händler verkauft worden, der die Shein-Labels entfernt und die Artikel „irgendwo ausserhalb Europas“ verkauft habe.
Roberts Job war es, die retournierten Artikel nach groben Kategorien geordnet ins Lager einzuräumen: T-Shirts hier, Jacken dort, Jeans da. Kein Hexenwerk, wenn da nicht die Zielvorgaben gewesen wären: Als er begann, im Sommer vor einem Jahr, hiess es, pro Tag seien 1600 Artikel einzuräumen. Das sei gerade noch zu schaffen gewesen – ausser dann, wenn die Kisten im Lager bereits so voll waren, dass man zu viel Zeit damit verlor, eine zu finden, in der es noch Platz hatte. Später sei die Quote jedoch auf 1800 erhöht worden – „und das erst noch im Winter, wenn es viel mehr dicke, schwere Kleider hat und es deshalb eh schon schwierig ist, genügend Platz zu finden“. Das Verfehlen der Zielvorgaben sei mit Abstand der häufigste Kündigungsgrund, sagen beide. Aushilfskräfte seien oft schon nach einem Tag wieder weg gewesen.
Gewerkschafter rennen an
Den beiden Gewerkschaftern Daniel und Ludovic gelang es nie wirklich, an EC Hub ranzukommen. Am nächsten dran waren sie im Frühling 2020 – nachdem sie zuvor immer wieder Anrufe von Arbeiter*innen erhalten hatten, wie Ludovic erzählt. Sie hätten sich über plötzliche Änderungen der Arbeitszeiten beschwert, über ungerechtfertigte Kündigungen, über fehlende Parkplätze, über den Lohn. Fast alle Angestellten seien als „Magasiner type 1“ eingeteilt gewesen, der untersten Klasse, zu 12.63 Euro Stundenlohn brutto. Daniels Gewerkschaft setzt sich für einen sektorübergreifenden Mindestlohn von 14 Euro pro Stunde ein. Vor allem aber, sagt er, dürften in diese unterste Kategorie eigentlich nur Arbeiter*innen fallen, die einer einzigen, repetitiven Tätigkeit nachgehen. „Das ist bei EC Hub eindeutig nicht der Fall.“ Das und vieles mehr hätten Ludovic und er der chinesischen Geschäftsführerin erklären wollen. Die Frau habe zugehört und genickt, „aber sie hat wohl nur das verstanden, was sie verstehen wollte“, sagt Ludovic.
Auch der Versuch, im EC Hub eine Gewerkschaftsdelegation auf die Beine zu stellen, habe sich als unmögliches Unterfangen herausgestellt. Denn dafür müsste ein Viertel der Belegschaft per Unterschrift bekräftigen, dass sie sich eine Gewerkschaftsvertretung wünschen. Da aber die meisten Arbeiter*innen jeweils nur wenige Wochen beschäftigt seien, sei dies illusorisch gewesen. „Wir haben es aufgegeben“, sagt Daniel.
Plötzliche Trendwende
Gemäss den Daten, die in einem belgischen Firmenverzeichnis einsehbar sind, ist der allergrösste Teil der EC-Hub-Arbeiter*innen unbefristet angestellt. Doch laut übereinstimmenden Aussagen der beiden Angestellten und der Gewerkschafter kann das schlicht nicht stimmen. Genau darum nämlich sei es gegangen, als sie Anfang dieses Jahres zum letzten Mal Kontakt mit dem Management der Firma gehabt hätten, sagt Daniel.
Dieses sei bei ihnen mit dem Anliegen vorstellig geworden, ein Abkommen zu erzielen, damit im Lager künftig auch am Wochenende gearbeitet werden dürfte. Die Gewerkschafter waren bereit, darüber zu verhandeln – aber nur unter der Bedingung, dass EC Hub deutlich mehr Arbeiter*innen fest anstellt; nämlich mindestens 50 statt der gerade mal 25, die damals über einen unbefristeten Vertrag verfügt hätten. Die Firma habe dann tatsächlich ein paar zusätzliche Arbeiter*innen fest angestellt, doch kurz darauf muss es zur strategischen Trendwende gekommen sein: An einem Sommertag wurden Simone und ihre Kolleg*innen plötzlich geheissen, die Retouren nicht mehr sorgfältig neu einzupacken, sondern sie – zerknüllt, wie sie waren – auf Paletten zu stapeln, auf denen sie dann aus dem Lagerhaus spediert wurden – „direkt nach China“, glaubt Simone. Ins Lager wurde nichts mehr eingeräumt, auch Robert half nun mit, Retouren auszupacken – bis irgendwann keine mehr ankamen.
Offenbar kümmert sich mittlerweile der lokale Ableger des chinesischen Logistikkonzerns YunExpress um die Shein-Rücksendungen aus Europa – oder zumindest um einen beträchtlichen Teil davon. Letzthin habe sie ein Mitarbeiter von YunExpress kontaktiert, um sie zu fragen, wie das System funktioniere, erzählt Simone.
Der Augenschein
Wir fahren raus ins Industriegebiet, nach Herstal, parkieren unseren Wagen vor der Lagerhalle von EC Hub. #meetSHEIN prangt auf der gläsernen Fassade, daneben steht die Tür in die Lagerhalle offen. Zwei Männer sitzen am Eingang, trinken Kaffee aus Plastikbechern. „Wir warten, bis es hier wieder Action gibt“, erklärt der eine. Wann das sein werde? „Keine Ahnung.“ In der Lagerhalle kurvt ein junger Mann mit einem leeren Gabelstapler um letzte verbleibende Paletten mit Kartonkisten, hinten im Raum sitzen ein paar Arbeiter*innen um den weissen Tisch, den wir aus dem Video kennen.
Bald kommen zwei asiatische Frauen auf uns zu. Sie möchten wissen, was wir hier suchen. Unsere Fragen beantworten, das möchten sie nicht. Die müssten wir „an China“ richten, sagen sie uns. Ja, aber wohin denn in China? „An unseren Kunden.“ An Shein? Sie könne uns keine Adresse geben, sagt eine der Frauen, aber wir sollten unsere Kontaktdaten dalassen, sie werde diese „an den Kunden“ weiterleiten. Machen wir – und hören nie mehr was.
Wir wollen uns auch noch am Flughafen umschauen. In der hintersten Ecke des riesigen Logistikkomplexes am Flughafen Lüttich – gleich neben den Zuggleisen, die bis nach China führen – soll YunExpress in einer unlängst erstellten Halle untergebracht sein. Zwei Gabelstaplerfahrer weisen uns den Weg, „Shein ist dort drüben“, sagen sie. In einer grossen Halle, in der reihenweise Kartons palettiert sind, treffen wir auf einen Mitarbeiter. Besonders gesprächig ist auch der nicht. Dass man vor ein paar Wochen das Geschäft von EC Hub übernommen habe, „das ist möglich“, sagt er süffisant. Mehr könne er nicht sagen, da müsse man Shein direkt fragen. Ein klein bisschen mehr sagt er dann doch noch. YunExpress sei einzig für die Spedition zuständig, verpackt würde die Ware anderswo. Und jetzt müsse er wieder an die Arbeit.
Ungewisse Aussichten
Roberts Vertrag bei EC Hub läuft bald aus. Er wird danach eine Gabelstaplerprüfung absolvieren und möchte dann bei Alibaba am Flughafen beginnen. Simone wird vorerst mal abwarten, was weiter geschieht. Immerhin hat das Management bislang stets beteuert, EC Hub werde nicht geschlossen. Und anderenorts eine Festanstellung zu finden, wäre alles andere als einfach, sagt sie.
Vor Kurzem habe sich auch YunExpress bei der Gewerkschaft gemeldet, um eine Vereinbarung fürs Arbeiten am Wochenende zu erzielen, hatte uns Daniel zuvor noch erzählt. Er hat daraufhin eine Vorlage ausgearbeitet und sie der Firma zukommen lassen. Bis heute hat er nicht wieder von ihr gehört.
Mehr zu Schein:
- Pressemeldung: 75-Stunden-Woche für „Shein“
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Beitragsbild: Panos Pictures_Public Eye