Bis 2025 sollte Äthiopien ein Land mit mittlerem Einkommen werden. Dazu entwickelte die äthiopische Regierung eine umfassende Industriepolitik, die darauf abzielt, neben der Agrarwirtschaft verstärkt arbeitsintensive Niedrigtechnologie-Sektoren aufzubauen. Auch Akteure wie die Europäische Union und die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) beteiligen sich mit Programmen und Projektförderungen. Unternehmen investierten in Fortbildungen der Arbeiter*innen. So wurde beispielsweise im Sektor Lederwaren seit 2012 ein deutliches Wachstum in Produktion, Beschäftigungszahlen und Exporten erreicht. Vom Ausbau der exportorientierten äthiopischen Industriezweige haben europäische Textil-, Bekleidungs- und Lederwarenunternehmen profitiert, z.B. durch geringe Produktionskosten, Steuern und Zölle.
Die äthiopischen Arbeiter*innen erhielten hingegen in den letzten Jahren einen der schlechtesten Löhne der Welt. Einige Berichte (z.B. EU und SOMO) gehen von nur 26 US Dollar pro Monat für Näher*innen in der Bekleidungsindustrie aus. Zeitweise wurde für den Produktionsstandort damit geworben, die Lohnkosten seien nur halb so hoch wie in Bangladesch. Arbeitsrechte, wie das Recht sich zu organisieren und für höhere Löhne zu streiken, wurden dem Ziel wirtschaftlichen Wachstums politisch untergeordnet. Besonders in den extra eingerichteten Wirtschaftszonen wie dem Hawassa Industrial Park wird gewerkschaftliche Organisation unterdrückt; entsprechend können bessere Löhne kaum kollektiv ausgehandelt werden.
Auswirkungen von Covid-19
Wenn nun weltweite Wertschöpfungsketten und Märkte durch Covid-19 erschüttert werden und auch die äthiopische Regierung versuchen muss, die Ausbreitung des Virus zu verhindern, wird dies die äthiopische Bevölkerung schwer treffen. Eine der Handlungsoptionen, die Arbeiter*innen bei sehr schlechten Bedingungen in Fabriken bisher blieb – die Fabrik zu verlassen und eine andere Einkommensquelle in anderen Fabriken, im Agrarbereich oder im informellen Sektor zu suchen –, wird in naher Zukunft stark eingeschränkt durch eine Kombination aus sinkenden Aufträgen aus dem Ausland, weniger Kaufkraft im Inland und durch eine Wüstenheuschreckenplage, welche aktuell große landwirtschaftliche Nutzflächen in der Region abfrisst.
Ein aktuelles Arbeitspapier des Ethiopian Economic Policy Research Institute wagt es, die Effekte von Covid-19 auf Wohlstand und Wirtschaft in Äthiopien zu schätzen. In einem milden Verlauf der Pandemie, die zudem nach drei Monaten abgeklungen ist – dem besten kalkulierten Fall – wird ein Arbeitsplatzrückgang von 20 % im produzierenden Gewerbe und Bauwesen angenommen. Im schlechtesten angenommenen Fall – einem schweren Pandemieverlauf, der erst nach sechs Monaten abgeklungen ist, schätzen sie dafür einen Rückgang von rund 60 %. Selbst ohne die Heuschreckenplage zu berücksichtigen, wird entlang dieser Szenarien von einem Sinken des Bruttoinlandsprodukts zwischen 2,2 % und 9,9 % im Jahr 2020 ausgegangen.
Reaktionen der Regierung
Um die Verbreitung des Virus zu reduzieren, erließ die äthiopische Regierung eine Reihe von Maßnahmen wie Schul- und Grenzschließungen, Verbot von Mieterhöhungen, aber auch von politischen Versammlungen. Auch internationale Organisationen sehen Handlungsbedarf. So stellt beispielsweise die Weltbank im Rahmen des COVID-19 Emergency Response and Health Systems Preparedness Project 82,6 Millionen US-Dollar zur Verfügung für Maßnahmen im Gesundheitswesen zur Minderung der Auswirkungen von COVID-19 – die eine Hälfte als Zuschuss, die andere als Kredit. Doch die Furcht vor einem schlimmen Verlauf ist groß, auch wenn die erfassten Fallzahlen bisher relativ niedrig geblieben sind. 92 Fälle zählt die Weltgesundheitsorganisation zwischen dem ersten entdeckten Fall am 14. März und dem 17. April. Die Dunkelziffer könnte deutlich höher liegen.