Ein Mann steht in einem Baumwollfeld.

Türkei: „Sandstrahler wirst du nur, wenn du keine Wahl hast“

Die Arbeit als Sandstrahler in einer türkischen Jeansfabrik hat Bego Demirs Lunge zerstört. Heute leitet der 42-jährige Aktivist die Clean Clothes Campaign in der Türkei. Mit der eigenen Marke will er ein Modell für eine faire und nachhaltige Jeansproduktion sein. Im Gespräch gibt Bego Demir Einblick in seine erfolgreiche Kampagnenarbeit, in der er auf Empathie und Kreativität setzt.

Aufgezeichnet von Romeo Regenass, Frühling 2023, für Public Eye

„Ich begann als 15-Jähriger, in Istanbul als Sandstrahler zu arbeiten. Zwölf Stunden am Tag. Zwei Arbeiter zusammen in einer Kabine. Einer legt die Jeans hin, der andere hält mit dem Schlauch auf die richtigen Stellen. Mit Hochdruck wird Sand auf den Stoff geschleudert und bleicht diesen aus, damit der trendige Stonewashed-Look entsteht. Beim Aufprall wird der Sand pulverisiert, Quarzstaub liegt in der Luft. Eine Drecksarbeit. Das machst du nur, wenn du keine Wahl hast.

Was ich damals noch nicht wusste: Diese Arbeit ist extrem gesundheitsschädlich. Die einfache Maske, die wir hatten, schützte uns nicht. Der Quarzstaub lagert sich in den Lungen ab, und das verursacht über kurz oder lang eine Quarzstaublunge. Sie war lange nur als Berufskrankheit von Berg- und Asbestarbeitern bekannt. Realisiert habe ich das erst zehn Jahre später, als ich mit 24 Militärdienst leistete. Beim Rennen war ich sofort ausser Atem, ich war überhaupt nicht leistungsfähig.

Der Armeearzt tippte auf Tuberkulose – doch alle Tests waren negativ. Im gleichen Jahr wurde ein guter Freund von mir schwer lungenkrank und starb. Sein Beruf hatte den behandelnden Arzt auf die richtige Spur gebracht: Er war Sandstrahler gewesen, wie ich. Kurz darauf hatte auch ich meine Diagnose: Quarzstaublunge. Konkret hatte ich 46% meiner Lungenfunktion verloren. Für immer. Das zu hören, war hart.

Komitee für Solidarität mit Textilsandstrahler*innen

Wegen meiner Krankheit kam ich in Kontakt mit Ärzt*innen und Anwält*innen, und alle sprachen von meinen Rechten als Arbeiter. Für mich war das völlig neu, darüber hatte ich mir vorher nie Gedanken gemacht. Mit 15 hatte ich mein Dorf in Anatolien verlassen, weil ich dort keine Zukunft sah. Im kurdischen Teil der Türkei lässt dir die Politik des türkischen Staats kein würdiges Leben. Es gibt schlicht keine Arbeit. Die Sandstrahltechnik war in der türkischen Textilindustrie damals weit verbreitet; rund 10’000 Arbeiter*innen, zumeist Männer, machten nur das.

2008 gründete ich das Komitee für Solidarität mit Textilsandstrahlern, um für unsere Rechte zu kämpfen.Von Anfang an unterstützten uns dabei viele Ärzt*innen, Jurist*innen, Künstler*innen und Journalist*innen.

Begonnen hatte alles mit einem offenen Brief über meine Erfahrungen. Er erschien in einer Lokalzeitung, wenig später setzte ihn das grösste Blatt im Land auf die Frontseite. Am Erscheinungstag läutete mein Mobiltelefon ununterbrochen. Von einem Tag auf den anderen waren die Sandstrahlthematik und unser Komitee einer breiten Öffentlichkeit bekannt.

Wir setzten uns drei Ziele: erstens ein Verbot des Sandstrahlens in der Türkei zu erreichen, zweitens den betroffenen Arbeiter*innen zu ihren Rechten zu verhelfen und ihnen drittens eine kostenlose medizinische Behandlung zu gewährleisten.

Ein Jahr lang kämpften wir sehr intensiv für ein solches Verbot, und im April 2009 entschied die türkische Regierung tatsächlich, das Sandstrahlen von Denim und anderen Stoffen zu verbieten. Und 2010 erreichten wir auch, dass die Regierung allen Sandstrahler*innen kostenlosen Zugang zur medizinischen Versorgung gewährte. 2011 schliesslich trat ein Gesetz in Kraft, das allen Arbeiter*innen, auch jenen in informellen Arbeitsverhältnissen, die Pensionierung ermöglichte und eine monatliche Rente garantierte. Das scheint eine Selbstverständlichkeit zu sein, war es zuvor aber nicht – selbst mit einer Berufskrankheit.

Andere Länder sprangen in die Lücke

In kürzester Zeit hatte das Komitee also sehr viel erreicht. Doch dann realisierte ich, dass das Sandstrahlen von Jeans ein Problem ist, das nicht auf die Türkei begrenzt ist. Auch in Bangladesch und anderen Ländern, die viele Textilien produzieren, werden Jeans so behandelt. Viele Marken verlagerten in der Folge diesen Produktionsschritt einfach in andere Länder.

Das war nicht in meinem Sinn. Ich begann, Kontakte mit Gewerkschafter*innen in anderen Produktionsländern zu knüpfen, und kam auch mit der Clean Clothes Campaign (CCC) in Kontakt, die von Public Eye mitgetragen wird. Zusammen mit der CCC und der Erklärung von Bern, wie Public Eye damals noch hiess, lancierten wir eine internationale Kampagne und luden Arbeiter*innen aus Bangladesch nach Genf ein. Die geplante Fokussierung auf Bangladesch wurde wegen der Katastrophe von Rana Plaza im Jahr 2013 mit den 1138 Toten dann leider hinfällig; da standen plötzlich andere Probleme im Vordergrund.

Mir hat Rana Plaza definitiv die Augen geöffnet und aufgezeigt, dass das Sandstrahlen nicht das einzige Problem ist, das Arbeiter*innen in der Textilindustrie haben; die Arbeitsbedingungen sind generell schlecht.

Deshalb gründete ich 2013 CCC Türkei und führte bis 2018 mehrere erfolgreiche Kampagnen durch. Zum Beispiel 2017 im Fall einer Fabrikschliessung: 151 Arbeiter*innen hatten für die drei Monate vor dem Konkurs der Firma keinen Lohn mehr erhalten. Dabei hatte die Fabrik für die drei grossen Marken Zara, Mango und Next produziert.

Was tun? Wir schrieben den drei Marken einen offenen Brief und forderten sie dazu auf, ihre Arbeiter*innen zu bezahlen. Ihre erste Reaktion: Das ist nicht unsere Fabrik, wir haben dorthin nur Teile der Produktion ausgelagert. Doch die Marken hatten eine Vereinbarung mit dem internationalen Gewerkschaftsverband Industriall Global Union, in der sie sich dazu verpflichtet hatten, Verantwortung für die Arbeiter*innen in ihrer Lieferkette zu übernehmen. Das hielten wir ihnen vor. Und siehe da: Sie versprachen, die ausstehenden Löhne zu bezahlen.

Guerillaaktion brachte Erfolg

Doch nach einem Jahr war noch kein Geld geflossen. Es musste etwas geschehen. Für 50 Euro liess ich Karten drucken. Darauf stand: «Ich habe dieses Kleidungsstück hergestellt und wurde nicht bezahlt. Bitte fordere Zara/Mango/Next auf, mir meinen Lohn zu bezahlen.» Die Entlassenen gingen heimlich in die Läden und steckten die Karten in die Kleider, die in den Regalen lagen.

Unzählige Kund*innen reagierten auf diese Aktion. Ein offener Brief auf unserer Website ging auf Twitter und anderen Kanälen viral, BBC übersetzte ihn ins Englische, und am Ende berichteten die Medien weltweit darüber. Schliesslich bezahlte der Zara-Mutterkonzern Inditex die ausstehenden Löhne. Das war das erste Mal, dass eine Modemarke Arbeiter*innen in der Türkei direkt bezahlte.

In der Folge waren wir in mehreren ähnlich gelagerten Fällen erfolgreich: Mit kreativen und empathischen Aktionen gelang es uns jeweils, die Menschen bei ihren Gefühlen zu packen. Doch ich war trotzdem unzufrieden. Denn kaum war ein Fall gelöst, tauchte der nächste auf.

Mir wurde klar, dass das Problem systemische Ursachen hat: Die Textilbranche versucht immer, möglichst billig zu produzieren und nicht fair.

Was sind „saubere Kleider“?

Also realisierten wir ein Video, in dem wir beschreiben, was wir als CCC unter sauberen Kleidern verstehen: existenzsichernde Löhne, keine Kinderarbeit, Sicherheit am Arbeitsplatz und so weiter. Das Video kam an, und viele Konsument*innen fragten uns, wo sie denn solche Produkte kaufen könnten.

Darauf konnten wir ihnen nicht wirklich eine Antwort geben. In dieser Zeit hatte mich Ashoka, eine US-amerikanische Non-Profit-Organisation, die das soziale Unternehmertum fördert, als Fellow ­ausgewählt. Ich versuchte, eine Reihe von türkischen Produzenten dazu zu bewegen, saubere Jeans zu produzieren, erhielt aber lauter Absagen: Das sei utopisch und nicht machbar. Sie waren allenfalls bereit, mit mir eine faire und nachhaltige Produktlinie zu entwickeln; der grosse Rest soll so bleiben, wie er ist. Daran war ich nicht interessiert.
Aufbau einer fairen Lieferkette

Also beschloss ich, es selbst zu versuchen. Ich wollte beweisen, dass es möglich ist, Geld zu verdienen und trotzdem fair zu produzieren. Nach einem Jahr Forschung und Entwicklung gründete ich Bego Jeans. Aber ich wollte mehr, mir schwebte eine eigentliche Clean-­Fashion-Bewegung vor – ein Verbund von Unternehmen, die in der Türkei faire Mode produzieren. Ich wollte andere Marken dazu inspirieren. Deshalb baute ich nicht meine eigene Fabrik, sondern schuf eine durchgehend faire Lieferkette, die auch andere Produzenten nutzen sollten. Vom Anbau der Biobaumwolle bis zum Konfektionieren der Jeans sollte alles unter fairen Arbeitsbedingungen erfolgen.

Ein wichtiger Aspekt dabei: die Nachhaltigkeit. Denn was wollen die Modemarken? Sie wollen uns möglichst viel verkaufen – fünf oder zehn Jeans pro Jahr, nicht eine oder zwei. Deshalb haben sie kein ­Interesse daran, dass Kleider lange getragen werden. Dabei waren Jeans ursprünglich robuste Arbeiterhosen aus langlebigem Baumwollstoff. Erst ein Spielfilm mit James Dean machte die Hose zum Symbol für Jugend und Rebellion. Ein Symbol für Freiheit ist sie noch heute: In vielen Büros darf man bei uns nur am Casual Friday in Jeans zur Arbeit gehen.

Sandstrahlen zerstört die Jeans schon während der Produktion

Heute sind Jeans ein kurzlebiges Produkt wie andere Kleider auch. Laut einer italienischen Studie wird eine Jeans im Durchschnitt neun Monate lang getragen. Ich aber wollte ein Produkt herstellen, das die Leute lange anziehen. Und ich wollte, dass meine Kund*innen die Jeans am Ende ihres Lebenszyklus an mich zurücksenden, damit ich sie rezyklieren kann.

Bei den meisten Jeans geht das gar nicht. Denn heutzutage setzen die Hersteller Polyester und andere Materialien ein, welche die Lebensdauer reduzieren. Der heute so beliebte Used-Look, also die Jeans, die gebleicht werden und schon beim Kauf getragen wirken, verkürzt diese Zeit nochmals. Das Sandstrahlen zerstört die Jeans schon während der Produktion.

Meine Idee war, ein in jeder Hinsicht faires Produkt herzustellen: Wir wollen fair sein zur Natur, fair zu den Arbeiter*innen, fair zu den Konsument*innen.

Und deshalb wollen wir auch nicht einfach verkaufen. Wir sagen: Wenn du eine Jeans brauchst, kaufe sie. Wenn du keine brauchst, lass es sein. Das ist unsere Strategie.

Doch dann kam Covid-19. Das veränderte alles. Wir sperrten unsere Website, denn die Leute brauchten ja keine Jeans mehr; sie konnten im Pyjama zu Hause bleiben. Aber was geschah bei anderen Firmen? Sie verkauften online so viel wie nie zuvor. Mit verheerenden Folgen für alle, die in der Logistik arbeiteten und eben nicht im Pyjama zu Hause bleiben konnten: Gemäss der Erhebung einer Gewerkschaft waren sie viel stärker gefährdet, an Covid-19 zu erkranken, als andere.

Mehrere Menschen sitzen auf weißen Stühlen, vor ihnen steht ein Mann und spricht.

Entscheidungen auf politischer Ebene gefragt

Da machten wir nicht mit. Aber wir brauchten Geld, denn wir hatten unsere Produktion gestartet. Ich hatte unterdessen auch eine Familie und vier Kinder. Also kontaktierte ich mehrere Investor*innen, die an nachhaltigen Geldanlagen interessiert waren. Zehn davon investierten schliesslich in Bego Jeans und wurden Partner*innen. 2021 nahmen wir die Produktion wieder auf und versuchten auch weiterhin, andere Unternehmen von unserer Philosophie und unserem Modell zu überzeugen.

In einem Land, in dem 50% der Beschäftigten in der Textilbranche in informellen Arbeitsverhältnissen tätig sind, also arbeits- und sozialrechtlich nicht geschützt und steuerrechtlich nicht erfasst, ist das kein leichtes Unterfangen. Deshalb legen wir bei potenziellen Partnerfirmen so viel Wert auf die Bezahlung von Existenzlöhnen und eine hohe Arbeitsplatzsicherheit. Nur so kann ich hinter dem Produkt stehen. (…)

Aber damit sich wirklich etwas ändert, braucht es Entscheidungen auf politischer Ebene. Zum Beispiel das neue Konzernverantwortungsgesetz, das die EU 2024 einführen will und das eine breite Sorgfaltsprüfungspflicht und einen Durchsetzungsmechanismus umfasst.

Von sich aus werden die grossen Modemarken höchstens in Nischen aktiv und nutzen dies für ihr Marketing. Das ist reines Greenwashing.

Deshalb ist den Marken auch egal, wenn sie die nachhaltigen Nischenprodukte nicht verkaufen. Hauptsache, es ist gut fürs Image.»

Text erschien zuerst bei Public Eye, der Schweizer Mitgliedsorganisation der Clean Clothes Campaign.
Beitragsbilder: © Public Eye
Baumwolle, Sicherheit und Gesundheit, Türkei

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