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Fragiler Fortschritt für Pakistans Textilarbeiter*innen

Die großen Modemarken schweigen zum verheerenden Lohndiebstahl in ihren Lieferketten von Ilana Winterstein

2021 war ein schweres Jahr für Textilarbeiter*innen. Doch im Juli gab es in der pakistanischen Provinz Sindh eine gute Nachricht: Die Provinzregierung kündigte eine 40-prozentige Anhebung des monatlichen Mindestlohns an – von umgerechnet 84 € auf 124 € (aktueller Wechselkurs). Zwar erreicht auch der neue Lohn nicht das existenzsichernde Lohnniveau. Trotzdem ist er ein Fortschritt gegenüber dem Hungerlohn, mit dem die Arbeitnehmer*innen während der Pandemie ums Überleben kämpfen mussten.

Eine von der Regierung angeordnete Erhöhung hätte wasserdicht und unverrückbar sein müssen. Sie hätte den Beschäftigten genügend Geld garantieren sollen, um ihre Familien zu ernähren und ihre Miete zu bezahlen. Doch der Fortschritt in der Bekleidungsindustrie ist zerbrechlich. Jetzt, ein halbes Jahr später, ist die versprochene Lohnerhöhung immer noch nicht in Kraft getreten.

Die Fabrikbesitzer*innen fürchten, die höheren Lohnkosten nicht aufbringen zu können. Sie stehen unter extremem Preisdruck, denn die Modemarken drängen auf immer billigerer Produktion. Deshalb haben sie gegen die Anordnung Einspruch erhoben. Das endgültige Urteil des Obersten Gerichtshofs von Sindh wird im Januar erwartet. Für die Arbeit*innen bedeutet das: Weiterschuften für einen Hungerlohn.

Die Bekleidungsmarken, die ihre Waren aus der Provinz beziehen, schweigen. Damit lassen Gap, H&M, C&A, Aldi Nord, Bestseller, Levi’s, Fruit of the Loom und andere Unternehmen wissentlich zu, dass der systematische Diebstahl in ihren Lieferketten weitergeht – und widersprechen damit ihrem selbsterklärten Wunsch, den Arbeiter*innen einen angemessenen Lohn zu zahlen.

Die Marken bezeichnen ihre neusten Kollektionen als „conscious “ und „ethisch“, vermeiden es aber, sich mit einem der am wenigsten ethischen Aspekte ihres Geschäftsmodells auseinanderzusetzen: den Armutslöhnen.

Sindh ist nach der Region Punjab eines der beiden wichtigsten Zentren der pakistanischen Bekleidungsproduktion. Die Textil- und Bekleidungsindustrie ist der zweitgrößte Arbeitgeber in Pakistan und macht 60% aller Exporte aus. Trotz der wirtschaftlichen Bedeutung liegen die Löhne in der Provinz auf Armutsniveau. Die Corona-Pandemie machte das Leben der Arbeiter*innen noch schwerer: Unzählige von ihnen erhielte monatelang überhaupt keinen Lohn. Hinzu kommt die hohe Inflation der vergangenen Jahre (im Dezember 2021 stieg sie auf 12,3% an).

Lange hatten die pakistanischen Näher*innen um eine Erhöhung des Mindestlohns gekämpft. In einer Branche, die auf Ausbeutung setzt, gab die Ankündigung der Regierung Hoffnung. Nicht nur den Beschäftigten in Sindh, sondern den Bekleidungsarbeiter*innen weltweit.

Es war die Anerkennung der Tatsache, dass die Industrienorm nicht nachhaltig ist – eine Tatsache, an der auch der übermäßige Gebrauch des Wortes „nachhaltig“ durch die Marken nichts ändert. Immerhin: Diese Anerkennung wird bleiben, selbst wenn der Oberste Gerichtshof von Sindh sich letztlich auf die Seite der Fabrikbesitzer*innen stellen sollte.

Lohndiebstahl als System

Sindh ist kein Einzelfall. Auch im indischen Karnataka stehlen Betriebe seit Monaten den Lohn ihrer Arbeiter*innen. Auch hier bleiben Multimilliarden-Dollar-Brands wie Nike, H&M, C&A, Zara und Tesco, von denen einige auch in Sindh produzieren lassen, untätig.

Nach einer staatlich verordneten Mindestlohnerhöhung im April 2020 warten mehr als 400.000 Bekleidungsarbeiter*innen immer noch darauf, diese Erhöhung zu erhalten. Die Rückstände belaufen sich mittlerweile auf rund 49 Millionen Euro. Und das, obwohl der Oberste Gerichtshof von Karnataka im September 2020 urteilte, dass der Mindestlohn einschließlich aller Rückstände an die Arbeiter*innen zu zahlen sei.

Die Beschäftigten in Karnataka berichten von Entbehrungen und Verzweiflung: „Wenn wir die Lohnerhöhung bekommen hätten, hätten wir wenigstens ein paar Mal im Monat Gemüse essen können. Stattdessen habe ich meine Familie nur mit Reis und Chutney ernährt“. Vergleichbare Geschichten sind auch unter den Arbeiter*innen in Sindh leicht zu finden.

Die Arbeitnehmer*innen selbst haben nur begrenzte Möglichkeiten, sich an die Justiz zu wenden. Im Fall von Sindh erließ der Oberste Gerichtshof im Dezember ein Zwischenurteil, das die Arbeitnehmer*innen verpflichtete, die ausstehenden Löhne auszuzahlen. Während das Gericht über sein endgültiges Urteil berät, erhöhten die Zuliefer*innen den Druck. Sie drohten, die Produktion in Regionen mit niedrigeren Löhnen zu verlagern. Würden sie ihre Drohung wahr machen, würden Hunderttausende Arbeitnehmer*innen auf der Straße stehen – ohne Ersparnisse und sozialer Absicherung. Auch in Karnataka ist bisher nichts passiert. Die Fabrikbesitzer*innen legen weiter Berufung ein. Und in beiden Fällen schweigen diejenigen, die die Macht haben, etwas zu ändern.

Die Augenwischerei der Marken

Die Marken tragen mit ihren Geschäftspraktiken einen großen Teil der Verantwortung dafür, dass sich die Zulieferbetriebe nicht in der Lage fühlen, die höheren Arbeitskosten zu tragen. In Karnataka gaben die Marken zahnlose Erklärungen ab, in denen sie ihre Zuliefer*innen aufforderten, sich an den gesetzlichen Mindestlohn zu halten. In Sindh haben sich die Marken kaum zu Wort gemeldet.

Stattdessen geben sie riesige Summen für PR aus. Sie bezeichnen ihre Bekleidungslinien als „fair“ und „ethisch“. Gleichzeitig vermeiden sie es, einen der am wenigsten ethischen Aspekte ihres Geschäftsmodells anzusprechen: die Armutslöhne. Die Marken

  • verhandeln nicht direkt mit Gewerkschaften und Arbeitnehmer*innen. Dabei ist es ohne die internationalen Marken unmöglich, echte und dauerhafte Veränderungen herbeizuführen.
  • weigern sich, die Einkaufspraktiken zu überarbeiten, die die Lieferant*innen gegeneinander ausspielen und die Produktionskosten immer weiter drücken.

Marken geben ihren Namen für „humanitäre“ Initiativen, mit denen Bekleidungsarbeiter*innen gestärkt werden sollen. Ein Beispiel dafür ist das Empower@Work-Programm von Gap. Empower@Work wurde 2021 ins Leben gerufen und soll Bekleidungsarbeiterinnen „Werkzeuge an die Hand geben, mit denen sie sich selbst und ihre Familien für kommende Generationen aufwerten können“. Starke Worte, doch sie umgehen den grundlegendsten Schritt zur Stärkung der Frauen im Bekleidungssektor: einen existenzsichernden Lohn.

Die Zahlung eines existenzsichernden Lohns sollte weder optional sein noch als Lieblingsprojekt eines CSR-Beauftragten angesehen werden. Die Zahlung eines existenzsichernden Lohns sollte Grundlage der Unternehmensführung sein.

Ermächtigung ohne finanzielle Ermächtigung gibt es nicht. Erst die Zahlung eines existenzsichernden Lohns gibt einer Frau die Möglichkeit, Entscheidungen über ihre Zukunft und die ihrer Familie zu treffen.

Gap und andere Marken hätten jetzt die perfekte Gelegenheit, den Arbeiter*innen zu helfen, „sich selbst zu empowern“, indem sie mit ihren Zulieferer*innen zusammenarbeiten und sicherstellen, dass diese den gesetzlichen Mindestlohn sowohl in Sindh als auch in Karnataka zahlen. Das sollte weder optional sein noch als Lieblingsprojekt eines CSR-Beauftragten angesehen werden. Die Zahlung eines existenzsichernden Lohns sollte Grundlage der Unternehmensführung sein.

Markenunternehmen könnten eine Schlüsselrolle bei der Förderung der Arbeitnehmer*innenrechte übernehmen, indem sie

  • ihre Zuliefer*innen auffordern, den Anstieg der Löhne in den Produktkosten zu berücksichtigen. Dies würde sich nur geringfügig auf die Gewinne auswirken, aber ihren Lieferant*innen das Vertrauen geben, die Produktion in der Provinz fortzusetzen und dabei den gesetzlich festgelegten Mindestlohn zu zahlen.
  • sich verpflichten, gemeinsam mit ihren Zulieferer*innen und den Gewerkschaften ein nachhaltiges System für jährliche Lohnerhöhungen zu entwickeln und so aktiv auf einen existenzsichernden Lohn hinzuarbeiten.
  • die Schritte, die sie unternehmen, um menschenwürdige Arbeit zu gewährleisten, transparent machen.

Im Verhaltenskodex von H&M heißt es: „minimum requirement is that employers shall pay at least the statutory minimum wage, the prevailing industry wage or the wage negotiated in a collective agreement, whichever is higher“ („Die Mindestanforderung der Marke besteht darin, dass Arbeitgeber*innen mindestens den gesetzlichen Mindestlohn, den branchenüblichen Lohn oder den in einem Tarifvertrag ausgehandelten Lohn zahlen, je nachdem, welcher höher ist“).

Marken verstecken sich oft hinter gesetzlichen Mindestlöhnen. Sie argumentieren, dass es nicht an ihnen liege, Löhne festzulegen und zu erhöhen. Im Jahr 2018 erklärte H&M öffentlich, es wolle keine „isolierte Blase der Fairness“ schaffen, indem es einseitig höhere Löhne zahlt. Jetzt hätte das Unternehmen die Möglichkeit, staatlich angeordnete Lohnerhöhungen zu unterstützen – und ergreift sie nicht.

Kultur der Straffreiheit

Diese Fälle von Lohndiebstahl sind ein Beispiel für die Kultur der Straffreiheit, die die globale Bekleidungsindustrie durchzieht. Die Marken distanzieren sich geschickt von Missständen an der Basis. Sie haben eine Industrie aufgebaut, die ganz auf ihre Wünsche eingeht: eine Industrie, die es ihnen ermöglicht, ihre Gewinne auf Kosten der Arbeitnehmer*innenrechte zu maximieren, und die ihnen die Freiheit gibt, sich aus dem Staub zu machen, wenn die Preise steigen oder Missstände aufgedeckt werden.

Die Lösung für den massenhaften Lohndiebstahl in Sindh und Karnataka ist einfach. Eine Erhöhung des Mindestlohns wurde angeordnet. Jetzt sollte sie umgesetzt und von den Marken aktiv unterstützt werden. Sollte die Erhöhung aufgehoben werden, wird es Jahre dauern, bevor eine Regionalregierung erneut eine solche Anordnung erlassen wird. Das sind Jahre, in denen die Bekleidungsarbeiter*innen und ihre Kinder in Armut und Unsicherheit leben werden. Die Auswirkungen auf die nächste Generation sind klar, ebenso wie die Maßnahmen, die Marken ergreifen müssen, um dies zu verhindern.

H&M, C&A, Levi’s und andere müssen klar mit ihren Lieferant*innen kommunizieren und etwaige Defizite durch höhere Produktpreise ausgleichen. Sie müssen sich dazu verpflichten, die Arbeiter*innen in ihrem Kampf für einen existenzsichernden Lohn zu unterstützen. Alles andere wäre eine wissentliche Verletzung der Arbeitnehmer*innenrechte. Momentan gibt es eine schwache, aber greifbare Hoffnung, dass die Erhöhung des Mindestlohns um 40 % in der Provinz Sindh aufrechterhalten wird. Aber die Macht, dies in die Tat umzusetzen, liegt in den Händen der Marken.

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